„Wenn die Demokratie erwachsen wird, gönnt sie sich so viele Bürgerräte, wie sie braucht“
Ein Bericht von Ilka Dönhoff
Menschen, die weder Politiker*innen noch Expert*innen sind, diskutieren über kontroverse politische Themen: Dass das nicht nur gut gehen, sondern eine wertvolle Ergänzung zur parlamentarischen Demokratie sein kann, haben die Erfahrungen mit Bürger*innenräten gezeigt. Autorin Ilka Dönhoff erhielt jetzt Einblick in die Arbeit zweier solcher Räte: einmal im Gespräch mit Ehemaligen bei einem „Meet & Greet“ von Klima-Mitbestimmung JETZT, danach als Gast beim laufenden „Bürgerrat Klima“.
Tim ist ein lockerer und gesprächiger Typ, dem bildhafte Vergleiche wie selbstverständlich von der Zunge gehen. Er scheint Eis zu lieben und beschreibt das Gesprächsklima und den Prozess der Konsensfindung in den Kleingruppen als „Eiscreme mit Sahne“.
Er nahm im September 2019 in einem Konferenzhotel in Leipzig am „Bürgerrat Demokratie“ teil. Hier kamen 160 ausgeloste Bürger*innen an zwei Wochenenden zusammen, um eine Frage aus dem Koalitionsvertrag zu beantworten: Wie kann die bewährte parlamentarische Demokratie durch Bürgerbeteiligung ergänzt und wie können demokratische Prozesse gestärkt werden?
Zur Teilnahme am Bürgerrat hat ihn unter anderem motiviert, den regierenden Menschen helfen zu wollen und Rückhalt zu geben. Eine weitere sehr persönliche Motivation war es, in der vielfältigen Gesellschaft durch eine liebevollere Kommunikation ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl zu erzielen: In unserer Demokratie müsse sich eine dialogische Kommunikationsform etablieren, die uns vor noch mehr Spaltung retten werde.
Die in stringent moderierten Kleingruppen erarbeiteten Empfehlungen sollen laut einer anderen ehemaligen Teilnehmerin der Politik Mut machen und zeigen, zu welchen weitreichenden Veränderungen die Bevölkerung bereit ist. Hilfreich und notwendig für diesen grundsätzlich ergebnisoffenen Prozess sei gewesen, dass alle Teilnehmenden auf ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten gestoßen sind. Man müsse „Toleranz lernen“ und es sei wichtig, wahrzunehmen, dass eine AfD-Wählerin ebenso zur Gesellschaft gehöre wie ein Schüler oder eine Erwerbslose, so die beiden Bürger*innenräte. Entsprechend verlief längst nicht alles friedlich: Die teils kontroversen Diskussionen seien wertvoll gewesen, denn das Anhören der Lebenserfahrungen und Ansichten anderer (wozu einige Bundespolitiker*innen zu wenig Gelegenheit haben) ermögliche regelmäßige Änderungen der eigenen Meinung. Insgesamt habe ein großes Wir-Gefühl geherrscht und ein „Generationendialog“ stattgefunden. Schließlich seien die Prozesse metaphorisch gesprochen „Verrührprozesse“, bei denen alle mithelfen, den Teig für das selbst zu backende Brot herzustellen, das unter Umständen kein revolutionäres Resultat bringt, nachher aber allen schmeckt.
Politische Anbindung als Voraussetzung für weiteres politisches Engagement der Teilnehmenden
Eine Frage beim „Meet & Greet“ zielte auf die Berücksichtigung der Empfehlungen der Bürgerräte durch die Politik ab. Die politische Anbindung sei sehr wichtig und richtig und sorge mit dafür, dass Teilnehmende dranbleiben und zu idealen, politisierten Multiplikatoren werden (können), betonte die Bürgerrätin. Obwohl oder vielleicht, gerade weil sie erlebt haben, wie schwierig Politik eigentlich ist, engagieren sich viele im Nachhinein weiter.
Einer der Aktiven zog auch eine Lehre aus dem Klima-Bürgerrat in Frankreich: Wenn wie dort keine Umsetzung der Empfehlungen durch die Politik stattfindet, sollten Bürger*innen noch mal nachlegen können, idealerweise mit einer Kombination aus Bürgerrat und Volksentscheid (bzw. Bürgerentscheid in Städten, Anm. d. Red.).
Neben dem großen Potenzial von Bürgerräten wurde auch eine Grenze benannt: Teilnehmende können bei diesem Instrument (das aus guten Gründen zeitlich begrenzt ist) nicht das Große und Ganze im Blick behalten. Die themenspezifschen Vorschläge mit anderen Politikfeldern in ein „harmonisches Gesamtkonstrukt“ zu überführen, müsse die gewählte Politik leisten, ergänzt einer der Organisator*innen des Meet & Greet.
An die gewählten Politiker*innen haben alle Organisator*innen von der Initiative „Klima-Mitbestimmung JETZT“ einen weiteren Wunsch: Sie möchten, dass Politiker*innen das Instrument Bürger*innenrat zu schätzen lernen und dass es Teil der politischen Praxis wird – gerade bei Themen mit großem Konfliktpotenzial. Um diesen Wunsch wahr werden zu lassen, treffen sie sich regelmäßig mit Politiker*innen nahezu aller Parteien. Gleichzeitig möchten sie zwei Millionen Menschen für dieses innovative Instrument begeistern, um so den notwendigen Druck von unten für mehr Bürger*innenräte zu erreichen. Dafür sei es hilfreich, ehemaligen Teilnehmenden wie bei diesem Meet & Greet zuzuhören.
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Kurz nach dem Meet & Greet hatte die Autorin die Gelegenheit, einen Termin des „Bürgerrats Klima“ zu beobachten (als Vertreterin des KlimaEntscheids Münster und damit Teil des Unterstützungskreises dieses aktuell rein online laufenden Bürgerrats).
Würden die im Nachhinein reflektierten, oben beschrieben Erfahrungen auch live wiederzuerkennen sein?
Die ebenso wie oben insgesamt 160 ausgelosten Bürger*innen bildeten zu Beginn – wie in Bürgerräten üblich – einen Querschnitt der Bevölkerung Deutschlands ab und waren damit größtenteils mehr oder weniger interessierte Laien. Manche hatten sich laut Organisator*innen noch nie mit Klimafragen beschäftigt. Trotzdem hatten sie durch vorige Inputs und Diskussionen erstaunliche Kenntnisse erworben und sich nach teils anfänglichem Zögern so stark in die Themen vertieft, dass sie in Kleingruppen fundierte Beiträge leisten konnten.
Erstes „Zoom-in“: Input in einem der vier Handlungsfelder
Im dreistündigen Treffen ging es im Handlungsfeld „Gebäude und Wärme“ mit 40 Teilnehmenden um das Thema der kommunalen Wärmeplanung. Dazu erhielten die Teilnehmenden zunächst einen Input von Ruth Drügemöller (die Inputs stehen über YouTube auch der Öffentlichkeit zur Verfügung).
Während des ca. 20-minütigen Inputs (der von einem Teilnehmer als der beste bisher gelobt wurde), wurden Fachbegriffe von einem sogenannten „Faktenchecker“ im Chat erklärt. Ergänzt wurde der Input durch kurze aufgezeichnete Statements von Praktikern (einem Technischen Leiter der Bamberger Stadtwerke, einem Mitarbeiter eines Energieberatungsunternehmen in Lörrach und einem Klimaschutzmanager im Rhein-Hunsrück-Kreis). In der anschließenden Fragerunde mit der Referentin entstand eine angeregte und ehrliche Diskussion. Mit unaufgelösten Widersprüchen, die teils durch Bürger eingebracht wurden, mussten die Teilnehmenden umgehen – ganz wie im echten Leben.
Zweites „Zoom-in“: Konzentrierte Arbeit in Kleingruppen
Auffällig waren zum einen trotz strikten Zeitplans die Geduld und Freundlichkeit der Moderator*innen während der Input-Phase und auch in den sogenannten „Tischgruppen“ mit je acht Teilnehmenden, die an den Input anschlossen. Diese intensive Arbeit an übergeordneten „Leitsätzen“ sowie detaillierteren Empfehlungen nahm einen Großteil des Abends ein. Nach einer Zusammenfassung des bisherigen Standes durch die Moderation an einer gemeinsamen, digitalen Tafel – die die anderen Kleingruppen ebenfalls gleichzeitig an anderer Stelle bearbeiteten – wurde eifrig weitergesammelt.
Dabei war zum anderen die hohe Konzentration bei der Arbeit bemerkenswert, die mehrfach auf die Probe gestellt wurde: Mal funktionierte die Technik nicht und die gemeinsame Tafel war nicht mehr sichtbar, mal wollten Kinder nicht schlafen gehen, sodass eine Teilnehmerin länger nicht zu sehen war und entschuldigend im Chat schrieb, sie höre immer zu, nur antworten könne sie gerade nicht. Und wie in jeder Gruppe musste schließlich die Moderation Vielredner*innen und eher ruhigere Menschen im Blick behalten, was auch recht gut gelang. So wurde der erst zurückgezogene Wortbeitrag einer Teilnehmerin (sie leitete ihren Vorschlag mit den Worten ein „Ich weiß nicht, ob das so wichtig ist, aber…“) durch die anderen ergänzt und schließlich aufgenommen.
Während die Moderation also Vorschläge der Gruppe aufgriff und versuchte, sie in Formulierungen zu gießen („Wie könnten wir das hier präzisieren? Wer hat eine Idee?“) sowie Formulierungsvorschläge aufnahm („Und wenn wir es so schreiben…“), erarbeitete die Kleingruppe Stück für Stück Empfehlungen und achtete dabei darauf, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven (die vermutlich auch in dieser Gruppe vertreten sind) nicht vergessen werden, z.B. indem für benachteiligte Personengruppen Ausgleiche und Angebote zur Unterstützung geschaffen werden sollen. Der oben beschriebene „Generationendialog“ und die unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten sind also auch hier zu beobachten: Von eher Jüngeren kamen mehr Vorschläge mit kooperativem Ansatz z.B. zwischen Kommunen, aber auch überregional und international, eher Ältere mit gutem Überblick erinnerten teils an bereits vorgeschlagene Leitsätze aus vorigen Terminen oder brachten Arbeits- und Lebenserfahrungen mit ein.
Erstes „Zoom-out“: Vorstellen und Zusammenführen der Ergebnisse
Zurück im Handlungsfeld mit den 40 Teilnehmenden, stellte zum Schluss des Treffens je ein*e Bürger*in die Ergebnisse der Kleingruppen vor und die Moderation fügte diese unter Rückversicherung der Bürger*innen zusammen. Hieran zeigte sich schon das „Große Ganze“ im Kleinen, denn jetzt wurde sichtbar, wie groß die gemeinsame Tafel eigentlich ist. Eine komplexe Herausforderung für die Moderation und insgesamt ein sehr gut organisierter Prozess.
Zweites „Zoom-out“: Finale Empfehlungen und Abstimmung in der Gesamtgruppe
Dieser letzte Schritt erfolgt in den übrigen Sitzungen. Nachdem alle 160 Bürger*innen zum zweiten Mal seit Beginn ihrer Arbeit ein Feedback über die Auswirkungen ihrer Empfehlungen durch die Wissenschaft erhalten, erstellen sie die finalen Empfehlungen und Leitsätze und stimmen in den letzten beiden Sitzungen darüber ab – und feiern diesen Abschluss natürlich. Die letzte Sitzung am Mittwoch, 23. Juni ist öffentlich ab 18 Uhr im Livestream zu verfolgen, am 24. Juni wird das fertige „Bürgergutachten“ bei einer Pressekonferenz der Politik vorgestellt.
Und dann sind Tim, die Teilnehmenden des Bürgerrats Klima sowie viele weitere Menschen und Organisationen gespannt, inwiefern die Politik ihre Empfehlungen berücksichtigt.