Ein Bericht von Sarah Khalil

Die Kommunalpolitiker*innen teilen die Sorge ums Klima – und scheuen Einschnitte aller Art

Bei 37° C Körpertemperatur geht es uns gut, schon ein Grad mehr rechtfertigt eine Krankschreibung. Zwei Grad mehr bedeuten Fieber, wir sind außer Gefecht gesetzt. Drei bis vier Grad sind lebensgefährlich und fordern dringende Behandlung. Bei fünf Grad mehr kommt jede Hilfe zu spät. 

Wäre die Erde ein Mensch, gehörte sie ins Bett. „Wir stehen nun auf der Stufe erhöhter Temperatur“, sagt Dr. Thomas Henningsen, Meeresbiologe und Programmdirektor bei Greenpeace Europa. Doch von Ruhe keine Spur. Stattdessen zwingen wir das System zu Schwerstarbeit. Beispiele gefällig? In seinem Vortrag fand Henningsen Dutzende davon (s. Beitrag „Bilder zwischen Schönheit und Horror“): Er nahm ca. 150 Zuhörerinnen und Zuhörer mit vom Grund des Ozeans bis auf die höchsten Berggipfel. Jeder Flecken Erde ist von den Folgen unseres Lebensstils betroffen. Henningsens Appell ist eindringlich:

„Wir dürfen die 1,5-Grad-Schwelle auf keinen Fall knacken.“ 

Denn dann reißen wir die wichtigsten Kipp-Punkte des Klimas auf der Erde. Spürbar werden diese durch das Wetter: „Wir hatten in Deutschland Hitzewellen mit mehr als 42 Grad Celsius“. Auch das Meereswasser wird wärmer, was wiederum schwere Stürme wahrscheinlicher macht. Starkregen und damit Überflutungen nehmen zu. Das Eis an den Polen schmilzt. Wasser kann die Sonneneinstrahlung nicht so gut reflektieren wie Eis, was die Überhitzung verstärkt. Der Golfstrom nimmt an Geschwindigkeit ab. Damit bleiben die Wetterlagen lange konstant. Es kommt zu Dürreperioden, die Waldbrände begünstigen, durch die wiederum CO2 austritt, was die Erderhitzung weiter beschleunigt. Und wir sind mittendrin: Die Temperaturen nähern sich in Südeuropa immer häufiger der 50-Grad-Marke. Es brennt in Russland inzwischen 365 Tage im Jahr, selbst unter dem Schnee. Ruß setzt sich auf die Schneefelder, sodass sie die Sonne anziehen statt reflektieren. Spanien hat 2021 den Klimanotstand ausgerufen, weil es Starkregenfälle nicht mehr bewältigen konnte. In Deutschland sind die Temperaturen um deutlich mehr als durchschnittlich 2 Grad gestiegen. „Wir haben den Kipppunkt schon erreicht. Es gibt keinen einzigen Parameter des Klimawandels, der sich 2020 nicht negativ entwickelt hätte.“

„Wir haben den Kipppunkt schon erreicht“

Das grönländische Eis ist so schnell abgeschmolzen wie noch nie. Der Meeresspiegel stieg allein 2021 um 2 mm. In dem Tempo würde es 4.500 Jahre dauern, bis die Arktis weg wäre. Klingt doch ganz gut, oder? Doch die Geschwindigkeit bleibt nicht, sie wächst exponentiell. Die Arktis schmolz 2020 doppelt so schnell wie im Vorjahr. Bleibt diese Rate, braucht es nicht 4.500 Jahre, bis das Eisschild dort weg ist, sondern nur 12. „Ich sage nicht, das passiert in zwölf Jahren, aber es passiert auch nicht in 4.500 Jahren“, erläutert Henningsen. Und vor allem: Es ist nicht umkehrbar. 

Die Erderhitzung setzt weltweite Entwicklungen in Kraft, bei der sich viele Faktoren gegenseitig bedingen: Der Golfstromsystem macht schlapp. Er ist allerdings ein „Förderband“, das Nährstoffe global verteilt, daher sterben Meereslebewesen. Gleichzeitig verlangsamt sich der „Jetstream“. Die Kombination führt dazu, dass die schweren Stürme nicht mehr – wie bisher – nach Westen, sondern nach Osten ziehen. Statt auf die Karibik und Nordamerika treffen sie auf Europa. „Wie sollen wir mit Stürmen von 400 km/h umgehen, wenn die Bahn bei 120 km/h den Betreib einstellt?“, fragt Henningsen seine gebannten Zuhörer rhetorisch.

„Wir laufen im Moment auf das schlimmste Szenario zu, das man sich vorstellen kann.“

Wenn die Temperatur ungebremst weiter steigt, steigt der Meeresspiegel um drei Meter. Riesige Küstenstreifen werden überspült. „Die ersten zwei Meter Anstieg sind noch OK“, so Henningsen zynisch – er müsste seine Heimat Kiel aufgeben. „Mit 14 Millionen Holländer*innen kommen wir klar.“ Mit 1,2 Milliarden Flüchtlingen, die die UN für 2050 prognostiziert, eher nicht. Doch wir sind auf dem besten Weg dahin: 2020 gab es den heißesten August aller Zeiten sowie die schlimmsten je gesehenen Waldbrände. Die UN hat verschiedene Klimaszenarien modelliert. Das Schlimmste besagt, dass Grönlands Eispanzer unwiederbringlich verloren seien, das arktische Meereis zusammenbricht und der Golfstrom sich immer stärker abschwächt. Zwei Drittel aller Tierbestände wären dann ausgestorben. Aktuell ist das sehr realistisch: „Wir laufen im Moment auf das schlimmste Szenario zu, das man sich vorstellen kann.“

Und was tut die Politik? – Sie lächelt freundlich. Und zwar nicht nur auf internationalen Klimagipfeln, sondern auch in Münster. Oder sie tut nicht einmal das. Das Bündnis KlimaEntscheid hatte die Kandidat*innen aller demokratischen Parteien eingeladen, um mit Ihnen darüber zu sprechen, wie sie dieser Bedrohung begegnen wollen. Erschienen waren Vertreter von sechs der acht geladenen Parteien, um mit den Gästen zu diskutieren. CDU und FDP hatten es vorgezogen, fernzubleiben.

Aber auch alle anderen scheuten sich Vorschläge zu machen, die konkret, kurzfristig umzusetzen und vor allem überprüfbar gewesen wären. Dabei endete Henningsens Vortrag durchaus mit einem Hoffnungsschimmer. Er hat faszinierenderweise nicht aufgegeben, sondern lieferte fünf ganz konkrete Forderungen an die Politik. 

„Wir müssen raus aus der Kohle und die Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende endlich umsetzen“.

  1. „Wir müssen raus aus der Kohle und die Energie-, Mobilitäts- und Agrarwende endlich umsetzen“. Eine theoretische Möglichkeit dazu gibt es. So würde es ausreichen, einen winzigen Teil der Sahara mit Solarpaneelen vollzustellen, um die ganze Welt mit Strom zu versorgen.
  2. Wir müssen die Wälder schützen. „Dazu muss man dann begrünen, wo immer es geht.“
  3. Russland muss wieder an Bord. Obwohl es heute so unwahrscheinlich klingt, wie selten zuvor, forderte der passionierte Umweltschützer, dass alle Staaten auf Russland zugehen. Denn es ist – wie man gerade schmerzlich merkt – nicht nur der größte Gas- und Ölproduzent. Es hat auch die größten Wälder, die das Klima schützen. Das Land steht aber auch auf Permafrost-Böden. 60 % der Fläche Russlands sind dauerhaft gefroren und würden immense Mengen Methan ausstoßen, wenn sie tauen. „Dann wäre die Welt verloren.“ Doch wo Schatten ist, ist auch Licht: In dem Riesenreich könnte eine freie landwirtschaftliche Fläche aufgeforstet werden, die vier Mal so groß ist wie Deutschland. „Wenn wir Russland nicht ins Boot holen, kann uns das alle umhauen“, so Henningsen. Ein großes Wort, locker ausgesprochen. 
  4. Wir müssen Allianzen bilden. „Zusammen sind wir in der Lage, große Konzerne zu bewegen“, glaubt Henningsen, der sich als Fan von Fridays for Future outete und so gleich alle Sympathien auf seiner Seite hatte.
  5. Jede*r muss etwas tun: Energiemanagement, Mobilität, Ernährung, Konsum. Wer 10.000 km pro Jahr Auto fährt, verbraucht allein dafür so viel CO2, wie ihm pro Jahr zustünde, wollte man die 1,5-Grad-Marke nicht knacken.

Anschließende Diskussion bietet wenig Konkretes

Vorab: Kein einziger der Gäste konnte ein Programm aus der Tasche ziehen, das diese Punkte enthielt. Und niemand wusste es, diese Steilvorlage für sich zu nutzen, indem er Wandel auch nur in Aussicht stellte. Stattdessen bemühten sich die geladenen Kandidat*innen, ihre Vorhaben zu verkaufen. Dabei blieben sie zumeist im Ungefähren. So solle zwar die Ukrainekrise nach Meinung von Thomas Kollmann (SPD) kein Grund sein, um Kohlekraftwerke länger laufen zu lassen „2038 ist als Ausstiegsdatum zu spät“, sagte er. Doch kein Wort dazu, wann stattdessen Schluss sein soll mit den Dreckschleudern. Und das lag wohl nicht nur am Wahlkampf. Es war schlicht die Einsicht, dass Klimaschutz Verzicht bedeutet. Und diese Angst war berechtigt. Denn bekam die Henningsens Forderung nach einem Kohlestopp noch lautstarken Applaus, sah das bei einer Forderung von Victor Schmidt (Moderne Soziale Partei), schon ganz anders aus. Der wollte, dass sich in der Klimapolitik strukturell etwas ändern muss: „Die Wissenschaft muss ein Vetorecht bekommen.“ Da wurde es kurz ruhig im Saal. Ein solcher Schritt würde den Parteien zu viel Handlungsspielraum nehmen, da waren sich alle einig. Doch dieser konkrete Vorschlag gab einen winzigen Ausblick darauf, mit welchem immensen Gegenwind eine Politik rechnen muss, die dem Klimaschutz tatsächlich den Vortritt gibt. Und dabei ging es hier noch nicht einmal um konkrete Vorschläge, geschweige denn um solche, die auf kommunaler Ebene auch umsetzbar wären. 

Gut, dass die Debatte zumindest am Ende ein klein wenig konkreter wurde. So waren sich alle Beteiligten einig, dass auf Münsters Stadtgebiet die Flächen für die Produktion erneuerbarer Energien deutlich ausgeweitet werden müssten. Dabei sollten Wind- und Solarkraftanlagen gegenüber Biogasanlagen gefördert werden, da sie weniger Fläche verbrauchen. Dafür müsse man Geld in die Hand nehmen und „Das muss zeitnah geschehen“, forderte SPD-Kandidat Kollmann. Wann zeitnah ist und, welche Fläche tatsächlich für Solarenergie ausgeschrieben werden, ließ er offen. Auch hatte er keinen konkreten Vorschlag, um die langwierigen und komplizierten Genehmigungsverfahren zu entwirren – dabei liegt das tatsächlich mal in Verwaltungshand. Da wurde Victor Schmidt schon konkreter. Er schlug vor, in den kommenden Jahren 100-200 Millionen Euro in die Hand zu nehmen, um diese dann nach wissenschaftlichen Standards auszugeben. Dorothea Deppermann (Bündnis 90/Die Grünen) entgegnete „Da will ich nicht mitbieten. Es geht darum, über die Rahmenbedingungen zu sprechen.“ Die Grünen forderten, die Höhe der Finanzierung von Bus und Bahn zu verdoppeln, die Taktung und die Anschlussgarantien zu verbessern. Menschen unter 18 Jahren sollten gar kostenfrei fahren. Konkrete Ideen, doch über die Rahmenbedingungen verlor Deppermann kein Wort – So müssen wohl auch die Verkehrsverbünde dringend reformiert werden „Wir können nicht Geld in die Hand nehmen, ohne die Strukturen zu ändern“, sagte Martin Grewer (Volt) und brachte europäische Nachbarländer als positive Beispiele vor. So kann man mit einem einzigen Ticket quer durch die Schweiz fahren, aber nicht durch NRW. In Wien fördern die Arbeitgeber den ÖPNV mit 2 € pro Einwohner*in. Doch umsetzen lassen sich diese Pläne nur, wenn die Wähler*innen mitspielen. 

Konservative vermeiden die parteiübergreifende Debatte zu Lösungen der Krise

Und „die Wähler*innen“ waren ebenso wenig repräsentativ im Plenum vertreten wie „die Parteien“ auf dem Podium. Während im Schloss wohl mehrheitlich jene saßen, die sich bereits länger um das Klima sorgen und vielleicht gar Zug und E-Bike dem Auto vorziehen, ist die Bilanz in Münster anders: Zwar stieg die Zahl der E-Bikes im vergangenen Jahr um 2.000 Stück; die Zahl der Autos aber um 4.000. Kein Wunder, wenn letztere noch immer überall vergleichsweise kostenarm parken dürfen. „Wir sollten uns nicht scheuen, sinnvolle Verbote auszusprechen“, so Stadtrat Robin Korte (Grüne). Korte selbst drückte sich nämlich an diesem Abend durchaus vor Verboten und forderte in der Diskussion noch kurz zuvor „Wir müssen das Thema parteiübergreifend lösen.“ Das gestaltete sich an dem Abend schon deshalb als unmöglich, da die Vertreter*innen von CDU und FDP gar nicht zur Debatte erschienen waren. 

Zumindest auf diesen Tenor konnten sich am Ende alle einigen: „Notwendig sind Allianzen“, fasste es Moderator Thomas Philipzen zusammen. Da hatten sie auch Thomas Henningsen mit im Boot. „Wir brauchen Aktionspläne mit schnell umsetzbaren Maßnahmen“, gab er allen mit auf den Weg, nicht ohne hinzuzufügen „Ich müsst euren Sprachgebrauch ändern. Nicht: Ich will, sondern, ich werde.“

Weitere Infos zum Vortragenden: https://www.orca-climate.org