Umfassender Backlash in der Energiepolitik – ein Gastbeitrag von Matthias Eickhoff

Der massive Ausbau erneuerbarer Energien kommt nicht voran – stattdessen wird die Rückkehr zu Kohle, Gas und Atomkraft politisch nicht nur propagiert, sondern direkt umgesetzt. Diese Entwicklung ist beängstigend. Zwei Szenen aus dem Oktober 2022 verdeutlichen, wie die Bundesregierung und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) vor der Atom- und Kohlelobby in die Knie gegangen sind.

Szene 1: Am 4. Oktober stehen Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) und seine grüne Ministerkollegin aus NRW, Mona Neubaur, bei einer Pressekonferenz einträchtig zusammen mit dem RWE-Chef Markus Krebber vor den Mikrofonen. Sie verkünden gemeinsam, dass Lützerath gegen alle Vernunft und gegen intensiven gesellschaftlichen Protest doch abgebaggert werden soll und zugleich dreckige Alt-Kohlekraftwerke wieder ans Netz kommen werden. Als kleines Bonbon verspricht RWE, bis 2030 mit dem Braunkohle-Tagebau aufzuhören. Bis vor wenigen Monaten demonstrierten die Grünen noch für den Erhalt von Lützerath – als Minister:innen und Abgeordnete bleibt davon nun nichts übrig.

Die in NRW mitregierende CDU stellte sich gar nicht erst aufs Podium und freute sich im Hintergrund über das politische Einknicken der Grünen. Zudem schickte die CDU Anfang Januar mit großer Schadenfreude die schwarz-grüne Polizei nach Lützerath. Bewahrung der Schöpfung? Auch für eine vorgeblich “christliche” Partei anscheinend kein Thema.

Szene 2: Einen Tag nach dem Ende des Bonner Grünen-Parteitags Mitte Oktober spricht Kanzler Olaf Scholz mit Zustimmung der Grünen ein „Machtwort“ und bestimmt, dass die drei verbliebenen deutschen AKWs in Lingen, Neckarwestheim und Isar II bis zum 15. April 2023 am Netz bleiben sollen. Angeblich droht wahlweise eine Stromlücke oder eine Netz-Instabilität oder Frankreich muss vor dem Blackout gerettet werden, weil die Hälfte der dortigen AKWs wegen gravierender technischer Mängel abgeschaltet ist. Und wenn das nicht reicht als Argument, dann dämpfen die AKWs plötzlich den Strompreis oder sie sind total klimafreundlich – so genau will das heutzutage in der Bundesregierung und in manchen Medien niemand mehr wissen. Hauptsache, die AKWs laufen erst mal weiter. Und die Brennelementeproduktion in Lingen sowie die Urananreicherung in Gronau ist sowieso vom weiterhin vom Atomausstieg ausgenommen.

Mit Vollgas ins Energie-Desaster

Die Atom-, Kohle- und Gas-Lobbyist:innen arbeiten seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Overdrive und treiben die Bundesregierung – und insbesondere die Grünen – einfach vor sich her. Deren Minister:innenriege kassiert viele bisherige Versprechen und gesetzliche Regelungen in atemberaubendem Tempo ein. Das ist für die nächsten Jahre ein verheerendes Signal.

Genauso verheerend ist, dass es im Bundestag eigentlich keine konstruktive Vertretung für mehr Klimaschutz gibt, da auch die Linken ihre Hausaufgaben nicht mehr machen. Sie sind intern völlig zerstritten. Einzelne Vertreter:innen tauchten zwar in Lützerath auf, aber z. B. in der Atompolitik fällt es der Partei mehr als schwer, die offensichtlich unverantwortlichen Atomgeschäfte zwischen Framatome Lingen und Russland zu kritisieren.

Im Bereich Klimaschutz öffnet sich so eine demokratische Legitimationskrise, wenn das für breite Teile der Bevölkerung zentrale Klimathema in den Parlamenten von keiner Partei mehr wirklich vertreten wird. Das kann für die parlamentarische Demokratie nicht gut sein. Die Grünen jedenfalls entfernen sich gerade in rasantem Tempo von der Klimabewegung.

Ohne außerparlamentarische Proteste und breites zivilgesellschaftliches Engagement wird es deshalb nicht möglich sein, die Energiewende, den Atomausstieg und die Einhaltung der internationalen Klimaschutzziele zu retten. Dazu ist es aber wichtig, dass sich die Klimabewegung nicht spalten lässt, so wie es die Atom- und die Kohlelobby intensiv versuchen.

Stresstests“ und rote Linien

Beispiel Atomkraft: Monatelang arbeitete ein informelles Bündnis aus FDP, CDU, CSU und mehreren Energiekonzernen daran, den 2011 nach Fukushima bereits zum zweiten Mal gesetzlich vereinbarten Atomausstieg zu kippen. Promis von CDU, CSU und FDP besuchten Atomkraftwerke und gaben sich in den Talkshows die Klinke in die Hand. Eingeladen hatte sie niemand anderes als Robert Habeck, der nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine völlig ungefragt plötzlich einen Weiterbetrieb der AKWs in den Raum stellte und mit einem „Stresstest“ gleich zweimal „prüfen“ ließ. Ein solches Angebot ließ sich die Atomlobby natürlich nicht entgehen – mit ständig wechselnden Argumenten, aber immer dem gleichen Ziel.

Schon im Sommer war klar, dass die grünen Minister:innen Laufzeitverlängerungen durchwinken würden. Auf dem Grünen-Parteitag in Bonn wurde für die Basis noch mal die Aufführung inszeniert, dass es „rote Linien“ gäbe: „nur“ zwei statt der drei Reaktoren und „definitiv“ keine neuen Brennelemente. Bereits 72 Stunden später war der Parteitagsbeschluss schon Makulatur. Robert Habeck gab sich im TV nicht einmal Mühe, die eigene Basis zu verteidigen.

Nun könnte mensch sagen: Was sollʼs? Die paar Monate extra sind doch kein Problem oder „so sind die Grünen halt“. Das übersieht völlig, dass hier eine echte rote Linie überschritten und ein Handlungsmuster etabliert wird, das weit über die Atomkraft hinaus für alle Klimavorhaben von Relevanz ist. 11 Jahre lang hieß es von grüner Seite und aus der Bundesregierung: Der Atomausstieg ist durch, das ist alles gesetzlich geregelt und fertig. Doch am 11. November 2022 wurde 50 Tage vor dem gesetzlich fixierten Abschaltdatum das Atomgesetz kurzerhand geändert. Und Anfang 2023 versucht die FDP bereits wieder, die Atomdebatte erneut anzuheizen. Gemeinsam mit CDU und CSU fordert sie weiterhin das Bestellen neuer Brennelemente für einen letztlich zeitlich unbefristeten Weiterbetrieb der AKWs. CDU-Chef spekuliert schon mit dem Neubau von AKWs.

Und: In Lingen soll die Brennelementefabrik des franz. Atomkonzern Framatome aktuell noch ausgebaut werden. Dazu wird ausgerechnet der Kreml-Konzern Rosatom zu einem Joint Venture eingeladen. Putins Atomkonzern bekäme so mitten im Krieg Zugriff auf eine deutsche Atomanlage. Im Herbst 2022 wurden zur Vorbereitung des Atomdeals in Lingen auch die Urangeschäfte mit Russland wieder aufgenommen – entgegen aller Bekundungen, die Ukraine unterstützen zu wollen. Dabei ist Rosatom sogar aktiv an der völkerrechtswidrigen, militärischen Besetzung des ukrainischen AKW Saporischschja beteiligt. Die dortigen ukrainischen Mitarbeiter:innen sollen zwangsweise Arbeitsverträge mit Rosatom unterschreiben. Trotzdem ist Russland im Atombereich für die EU weiter König und auch die Bundesregierung stoppt Framatomes atomare Ostexpansion im Emsland nicht. Atomausstieg? Nicht in Lingen.

Ob Atomkraft oder Kohle: drohender Ausstieg aus dem Ausstieg

Wer denkt, hier ginge es „nur“ um Atom, liegt völlig falsch. Was hier mit der Atomkraft vorexerziert wird, kann später dann auch mit dem Kohleausstieg geschehen. Welchen Wert haben die inzwischen mantra-artigen Ankündigungen, der auf 2030 „vorgezogene“ Kohleausstieg im Rheinland sei nun gesetzlich fixiert, wenn derartige Gesetze wenige Wochen vor der Deadline einfach gekippt werden können? Gerade Aktive aus anderen Teilen der Klimabewegung sollten sich diese Frage stellen, bevor sie einfach nur wegschauen, weil sie Atomkraft für ihre Auseinandersetzungen eventuell für irrelevant halten.

Beispiel Kohle: Die Frage lautet nicht: „Kohle ODER Atom?“ Wer sich auf diese Frage einlässt, ist der Atom- und Kohlelobby schon auf den Leim gegangen. Denn diese Frage suggeriert eine inhaltliche Koppelung. Tatsächlich wollen die Konzerne wie RWE oder Uniper und ihre Parteifreund:innen in FDP, CDU und CSU beides – Atom UND Kohle.

Nach der Logik einer inhaltlichen Koppelung hätte die Laufzeitverlängerung für die drei Atomkraftwerke dazu führen müssen, dass keine weiteren Kohlekraftwerke wieder ans Netz gegangen wären. Es passierte aber genau das Gegenteil: Die beiden grünen Klima-Minister:innen aus Berlin und Düsseldorf vereinbarten mit RWE das Wiederanfahren von alten, dreckigen Braunkohlekraftwerken – zusätzlich zu den weiterlaufenden AKWs. Das heißt, das Angebot an dreckigen und strahlenden Kraftwerken wird effektiv ausgeweitet. Deutschland hat deshalb im Jahr 2022 eine enorme Strommenge exportiert und verfehlt prompt die eigenen Klimaschutzziele. Der Ausstoß an CO2 stieg auf ein Rekordniveau.

Stromexport statt Klimaschutz

Die Gründe dafür sind schnell zu finden. Wer den ganzen Tag nur mit dem Erhalt der alten fossilen und nuklearen Energiewelt beschäftigt ist, hat keine Zeit mehr für den Ausbau der Erneuerbaren. Angeblich löst der russische Einmarsch in der Ukraine eine Energierevolution in Deutschland aus, um die Abhängigkeit von fossilen Energien und von Russland zu mindern – doch real werden praktisch keine neuen Windräder errichtet, es werden in Lützerath sogar Windräder von RWE abgerissen! Und auch bei der Solarenergie geht es nur in Minimalschritten voran. Wind und Sonne sind für RWE und Uniper noch immer sehr ungeliebte Konkurrenz, die mit den eigenen AKWs, Kohle- und Gaskraftwerken mit aller Kraft vom Markt ferngehalten werden sollen.

All das ist kein Wunder: So berichtet die Süddeutsche Zeitung, dass RWE-Chef Krebber mittlerweile mit Klimaminister Habeck “in stetem Austausch” stehe und ein “enger Berater” der Bundesregierung sei. Bei einer derart symbiotischen Beziehung verwundert es nicht, wenn am Ende RWE-freundliche Politik rauskommt und die Energiewende auf der Strecke bleibt.

Beispiel Gas: Es kommt nicht von ungefähr, dass Deutschland in Brunsbüttel und Wilhelmshaven im Eiltempo Flüssiggasterminals für Uniper aufbaut. Nun, da Uniper verstaatlicht ist, handelt die Bundesregierung sogar aus Eigeninteresse, um den Staatsbetrieb Uniper profitabel zu halten. Scholz und Habeck reisen zudem an den Persischen Golf und nach Afrika, um neue fossile Lieferanten aufzutun. FDP, CSU und CDU fordern natürlich auch Fracking für Deutschland. Wer jetzt den Ausbau der Gas-Infrastruktur so vorantreibt, hält die Energiewelt in der klimaschädlichen Vergangenheit fest und stellt die Weichen für eine klimaschädliche Zukunft.

Um es noch mal klar zu sagen: Der Ausbau der klimafreundlichen Erneuerbaren ist auf der Prioritätenskala der grünen „Klima“-Ministerien ganz unten gelandet. Stattdessen lieber Hochglanz-Pressekonferenzen mit RWE zu Lützerath und mit Uniper an den LNG-Terminals …

Bundesregierung als fossiler und atomarer Energiekonzern

Beispiel Uniper: Ein echter Coup war die Übernahme von Uniper durch die Bundesregierung, hier vertreten durch Robert Habecks Bundeswirtschafts- und -klimaministerium. Damit ist die Bundesregierung nun erstmals selbst zur Anteilseignerin an laufenden Atomkraftwerken geworden und übernimmt zahlreiche Kohle- und Gaskraftwerke – darunter das heftig umstrittene Kraftwerk Datteln IV. Die Bundesregierung wird sogar zur Eigentümerin von fünf Kohle- und Gaskraftwerken in Russland!

Durch die Übernahme wurde mit Steuergeldern letztlich die frühere „Bad Bank“ von E.ON verstaatlicht, die der Energiekonzern zunächst ausgelagert und dann an das mehrheitlich staatliche finnische Unternehmen Fortum verkauft hatte. Die fünf russischen fossilen Kraftwerke waren früher als E.ON Russia bekannt, die drei schwedischen AKW-Beteiligungen in Oskarshamn, Ringhals und Forsmark liefen als E.ON Sverige. In Oskarshamn ist die Bundesregierung über Uniper nun sogar die Mehrheitseigentümerin.

Wird die Bundesregierung ihre neue Power demnächst benutzen, um in Deutschland, Schweden und Russland fossile und nukleare Kraftwerke abzuschalten? Das könnte der Energiewende und dem europäischen Atomausstieg einen echten Schub geben. Doch damit ist nicht zu rechnen, wenn mensch die letzten Monate zum Maßstab nimmt. Im Gegenteil: Schweden will die Atomkraft ausbauen – beteiligt sich dann die Bundesregierung über Uniper aktiv an diesen Plänen? Nichts erscheint derzeit noch unmöglich.

Und: Auch bei Uniper gilt nun für die Bundesregierung der betriebswirtschaftliche Eigennutz. Eine Abschaltung von Kohle- und Gaskraftwerken in Deutschland würde Uniper betriebswirtschaftlich schaden – und damit auch dem Eigentümer Bundesregierung. Will die keine Verluste machen, wird sie die einstige “Bad Bank” von E.ON einfach weiterlaufen lassen – Klimaschutz spielt dann nur eine untergeordnete Rolle.

Für eine Energiewende müsste die Bundesregierung das Erreichen der Klimaschutzziele von Paris zur Priorität Nr. 1 erklären – und das ist erkennbar nicht der Fall. Klimaschutz ist 2022/23 zur reinen Nebensache degradiert worden, obwohl die Klimakatastrophen global deutlich zunehmen. Deutsche Klimaschutzpolitik ist in diesen Tagen die Story eines totalen Versagens. Die Bilder aus Lützerath sprechen eine deutliche Sprache.

Vielfältige Proteste gegen die Klimazerstörung

Aus diesem Grund versuchte ein breites Bündnis aus Klimainitiativen und Umweltverbänden monatelang durch zahlreiche Aktionen den Abriss von Lützerath zu verhindern. Am 3. November waren in Münster 2.500 Klimaaktivist:innen auf der Straße, als sich die G7-Außenminister:innen völlig abgeschottet in der Stadt trafen. Auch gegen die neuen LNG-Terminals gab es Proteste.

Seit Räumungsbeginn Anfang Januar finden in und um Lützerath ständig große Aktionen statt. Schon am 8. Januar waren 7000 Menschen vor Ort, am 14. Januar dann beeindruckende 35 000 – doch zwischen den beiden Demonstrationen rückte die Polizei mit mehreren Tausend Beamt:innen vor und zerstörte den Ort. Weltweit wurde berichtet, wie Deutschland sich anscheinend vom Pariser Klimaabkommen verabschiedet.

Doch die politische Auseinandersetzung geht weiter, denn noch liegt die Kohle unter Lützerath im Boden – und dort muss sie bleiben, wenn wir die 1,5 °-Grenze nicht endgültig reißen wollen. Politisch ist die Auseinandersetzung noch lange nicht vorbei.

Unterdessen forderten zahlreiche Anti-Atomkraft- und Umweltorganisationen von der Bundesregierung ein sofortiges Ende der unverantwortlichen Atomgeschäfte mit Russland und der atomaren Ostexpansion von Framatome Lingen nach Kasachstan, China, Tschechien und Bulgarien sowie einen Verzicht auf die AKW-Laufzeitverlängerung. Proteste gab es dazu in Neckarwestheim, Lingen, Münster und Berlin – sogar in der Silvesternacht in Lingen vor dem AKW und auf einem Hallendach der Brennelementefabrik. Weitere Proteste sind angekündigt, um den Ausbau der Lingener Atomanlage zu verhindern.

2023 wird das Jahr, in dem sich entscheidet, ob die Klimapolitik und der Atomausstieg noch eine Chance bekommen oder ob wir wirklich in die völlig entgegengesetzte Richtung „dampfen“. Die politische Auseinandersetzung wird nicht leicht, das ist sicher.

Hinweis: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der GWR-Ausgabe vom Dezember 2022 und wurde für Münster-Klima.Info aktualisiert.